Was einmal gebaut ist, hat lange Bestand. Umso wichtiger ist, von vorneherein sorgfältig zu durchdenken, wie eine nachhaltige Erschließung großer und kleiner Quartiere mit geeigneten Mobilitätsangeboten aussehen kann.
Projekt: dynamischer Masterplan im Rahmen der IBA Heidelberg
Ein aktuelles Beispiel für solche Großvorhaben stellt das Patrick-Henry-Village (PHV) dar, ein Konversionsgelände am Rande Heidelbergs, zugleich inmitten der Rhein-Neckar-Region, einem der wichtigsten Forschungs- und Innovationsräume der EU. Das PHV soll einmal auf seinen rund 100 Hektar 10000 Menschen ein Zuhause sowie 5000 Personen einen Arbeitsplatz bieten und dabei zu einem durchmischten und vernetzten 16. Stadtteil Heidelbergs werden.
Raum für eine Vision dieses noch ganz am Anfang stehenden Quartiers bietet die Internationale Bauausstellung (IBA) Heidelberg, die von 2012 bis 2022 in der Neckarstadt Prozesse und Bauprojekte rund um das Thema „Wissen | schafft | Stadt“ vorantreibt. Gemeinsam mit ihr entschloss sich die Stadt Heidelberg, eine Planung zu entwickeln. Im Rahmen der Erarbeitung eines Dynamischen Masterplans beauftragte sie das Büro Urban Standards – mit der Unterstützung von Buro Happold und KCW – damit, eine Mobilitätsstudie zu erarbeiten. Parallel vertieften weitere Konsortien die Themen Stadtbautypologien, Nutzungsmischung, Freiraum und produktive Stadtlandschaft sowie digitale Stadt in eigenen Studien, deren Ergebnisse miteinander verwoben und untereinander abgeglichen wurden. Der alle Studien bündelnde Dynamische Masterplan wurde im Juni 2020 vom Gemeinderat der Stadt beschlossen und ist auf der Internetseite der IBA verfügbar.
Vision: nachhaltiges Quartier, Unabhängigkeit vom eigenen Auto
In der Mobilitätsstudie geht es um die verkehrliche Anbindung des Quartiers an die Region und um seine Binnenerschließung. Aus der in der IBA entwickelten Vision eines nachhaltigen Quartiers, das Raum für Innovationen bietet, folgt das Ziel weitgehender Unabhängigkeit vom eigenen Auto – also Einbindung in die regionalen Netze des Umweltverbundes (ÖPNV wie Fahrrad) nach außen sowie Fußverkehrsfreundlichkeit, hohe Aufenthaltsqualität und weitgehende Stellplatzfreiheit im Quartier selbst. Angesichts der Lage des Gebietes im Netz aus Autobahnen und weiteren Hauptverkehrsstraßen stellt diese Hinwendung zu den Verkehrsträgern des Umweltverbundes eine ziemliche Herausforderung dar.
Kurze Wege zur Straßenbahn
Von Beginn an war im IBA-Prozess die Anbindung an den Heidelberger Stadtkern durch die Verlängerung einer bestehenden Straßenbahntrasse unstrittig. Für diese ließ sich im Quartier eine Route definieren, die das PHV optimal erschließt und – in Übereinstimmung mit dem Heidelberger Nahverkehrsplan – maximale Fußwegdistanzen von etwa 300 Metern zur jeweils nächsten Haltestelle erlaubt. Die Trasse kann perspektivisch in Richtung Mannheim verlängert werden, es entstünde so – z.B. über den S-Bahnhof Schwetzingen – eine regionale Verbindungsachse zwischen Heidelberg und Mannheim.
Vorrang für Rad- und Fußverkehr
Die Binnenerschließung im Quartier setzt in erster Linie auf Rad- und Fußverkehr, um den im IBA-Prozess formulierten hohen Ansprüchen an Nachhaltigkeit, Urbanität und Freiraum-Qualität gerecht zu werden. Das Quartier soll daher autoarm gestaltet werden, d.h. der Pkw-Verkehr wird über geteilte Autos (Carsharing) ermöglicht und die als nicht vermeidbar geltenden privaten Pkws werden am Rand des Quartiers in Sammelgaragen untergebracht, so dass kaum Stellplätze für Pkws im öffentlichen Raum vorgehalten werden müssen. Außerdem wird Raum für die perspektivische Einführung eines autonom betriebenen Sammelfahrzeugs gelassen.
Prüfung des Vorlaufbetriebs für die Straßenbahn
Breiten Raum in den begleitenden politischen und fachlichen Debatten nahm die Etappierung der Quartiersentwicklung ein: Darauf aufbauend entstand ein Phasenmodell, demzufolge das Areal von Süden nach Norden schrittweise erschlossen werden soll. Perspektivisch soll, wie bereits erwähnt, eine Straßenbahn das Quartier mit dem Heidelberger Stadtkern verbinden, als Vorlaufbetrieb empfiehlt sich eine Bus-Anbindung. Die folgende Abbildung zeigt die Routenführung der geplanten Straßenbahn, des Bus-Vorlaufbetriebs und des nahen Radschnellwegs samt Anschluss des PHV.
Das Ergebnis wird durch die folgende Abbildung veranschaulicht: Nach Abschluss der ersten Bauphase, in der mit rund 400 Bewohner/innen und 800 Arbeitsplätzen gerechnet wird, reicht ein Minibus mit 16 Sitzplätzen aus, um die Nachfrage zu bedienen – allerdings sollte er hierfür im 15-Minutentakt verkehren. Ist auch die zweite Bauphase mit – laut Studienannahme – weiteren rund 2.500 Bewohner/innen und 1.000 Arbeitsplätzen abgeschlossen, würde eine Taktverdichtung des Minibusses nicht mehr ausreichen, sondern der Einsatz eines Solobusses im 7,5-Minutentakt oder eines Gelenkbusses im 15-Minutentakt erforderlich. Zu diesem Zeitpunkt wäre auch eine Straßenbahn im 30-Minutentakt vorstellbar. Spätestens nach Fertigstellung und Bezug des gesamten Areals und einer dementsprechend steigenden Nachfrage würde ein Betrieb mit Bussen nicht mehr ausreichen, um die erforderliche Kapazität für das erwartete Fahrgastaufkommen in der Hauptverkehrszeit vorzuhalten: Die Straßenbahn müsste dann im Betrieb sein und alle 15 Minuten verkehren.
Siedlungsentwicklung und ÖPNV-Ausbau müssen verlässlich aufeinander abgestimmt werden!
Grundsätzlich wird durch die Darstellung die wechselseitige Abhängigkeit von Quartiersentwicklung und ÖPNV-Netzausbau deutlich: Der Straßenbahnbau benötigt eine verlässliche Aussage über den Zeitplan der Quartiersentwicklung, und diese wiederum hat dann die größten Erfolgsaussichten, wenn die qualitativ hochwertige Anbindung verlässlich beworben werden kann.
Mobilitätsstationen bieten flexible Angebote für alle Wege …
Eine zentrale Bedeutung für die Binnenerschließung haben Mobilitätsstationen, an denen verschiedene Mobilitätsangebote für die Bevölkerung verfügbar gemacht werden sollen. Für ihre Akzeptanz ist wichtig, dass sie an gut erkennbaren, möglichst auch öfter frequentierten Orten im öffentlichen Raum platziert sind oder in prominenten Ecklagen in die Bebauungsstruktur integriert und so als zentraler Bestandteil öffentlichen Lebens wahrgenommen werden.
… und werden nach Lage und Funktion unterschieden ...
KCW erarbeitete ein Konzept für die verschiedenen Kategorien der Mobilitätsstationen aus, welches diese je nach Lage in ihrer Größe und Funktion unterscheidet:
- Mobilitätsstationen der höchsten Kategorie bieten neben hochwertigen Abstellvorrichtungen für private Räder auch Stationen für Bike- und Carsharing sowie Abstellflächen und Ladestationen für Elektro-Kleinstfahrzeuge. Hier sollen alle Mobilitätsangebote verfügbar sein, der Servicelevel ist hoch, es wird Schließfächer sowie Informationen über die Mobilitätsangebote des Quartiers geben, und teilweise sind Ansprechpartner und eine Werkstatt vor Ort. Der Zugang zur Mobilitätsstation oder zu Teilen der Station (z.B. zum Bereich der Rad-Abstellanlagen) erfolgt automatisiert mittels Chipkarte o.ä. Im Quartier soll es insgesamt drei bis vier Mobilitätsstationen dieser Art geben. Sie werden Teil der Parkhäuser im Süden und Osten des Quartiers sein.
- Ein demgegenüber etwas eingeschränktes Angebot wird an jenen Mobilitätsstationen vorgehalten, die sich direkt an den Straßenbahnhaltestellen befinden. So können hier Fahrräder zwar nicht in einem Parkhaus, allerdings überdacht oder in eigens aufgestellten Boxen untergebracht werden.
- Möglichst nahe an den Hauseingängen oder Firmengrundstücken sollen Mobilitätsstationen platziert werden, in denen sich das Angebot auf einfache – ggf. überdachte – Abstellanlagen, Paket- und Schließfächer sowie Ladestationen beschränkt. In der Nähe von Arbeitsplatzschwerpunkten sind Bikesharing-Stationen denkbar. Besonders diese Mobilitätsstationen sind in der Architektur und Freiraumplanung zu berücksichtigen und entweder freistehend und überdacht oder als gebäudeintegrierte Funktionseinheiten zu planen. Die Abstellanlagen sollten nur für berechtigte Nutzer/-innen zugänglich sein.
- In Ergänzung zu den beschriebenen Mobilitätsstationen sind in den Wohngebieten oder an Orten wie Parks, Kitas, öffentlichen Einrichtungen, Einkaufsläden, Arztpraxen, gastronomischen Einrichtungen etc. Abstellvorrichtungen für private Räder und Bikesharing-Räder vorzusehen, die flexibel, d.h. nicht an einer speziell dafür vorgesehenen Station ausgeliehen und zurückgegeben werden können („free floating“).
… und fallen je nach Nachfrageerwartung unterschiedlich groß aus.
KCW prüfte weiterhin, welcher Bedarf für Fahrradabstellflächen an Wohn- und Arbeitsplatzstandorten besteht, wie Bike- und auch Carsharing-Stationen zu bemessen sind – einschließlich der Zahl von Lastenrädern –, welche Betreiberkonzepte für Sharing-Angebote in Frage kommen und welche Anzahl an Abstellanlagen und Fahrzeugen in den jeweiligen Bauphasen des Quartiers vorzuhalten sind.
Der erste Schritt zu einem zukunftsfähigen Stadtteil ist getan!
Die Stadt hat den Masterplan mit Beschluss des Gemeinderats vom 18. Juni 2020 genehmigt. Oberbürgermeister Prof. Dr. Eckart Würzner unterstrich gegenüber der Presse : „Wir wollten erneut einen zukunftsfähigen und international vorbildlichen 16. Stadtteil. Der ambitionierte Masterplan für das Patrick-Henry-Village ist hierfür eine hervorragende Grundlage“.