Verkehrsmodelle im Vergleich

Verkehrsmodelle im Vergleich

KCW und Telefónica NEXT analysieren den Personenfernverkehr mit Systemdynamik und Mobilfunkdaten

Anonymisierte Mobilfunkdaten sind eine neue Informationsquelle, die erhebliche Potenziale verspricht – sowohl für die Wissenschaft als auch für die Wirtschaft. Während in Deutschland bereits zahlreiche Anbieter im öffentlichen Nah- und Fernverkehr und auch Automobilhersteller mit diesen Daten arbeiten, steht eine umfassende wissenschaftliche Würdigung noch aus. Ausgangspunkt für die Forschung in der Bundesrepublik ist – abgesehen von einigen internationalen Publikationen, die sich dem Thema widmen – vor allem die Studie Potenzialanalyse zur Mobilfunkdatennutzung in der Verkehrsplanung, in der Forscher vom Fraunhofer Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation feststellen, dass Mobilfunkdaten für die Beantwortung verkehrswissenschaftlicher Fragestellungen grundsätzlich geeignet sind (Männel/Schmidt 2017).

Mit Mobilfunkdaten gemessene Reisen in Norddeutschland im Projekt "So bewegt sich Deutschland"
Mit Mobilfunkdaten gemessene Reisen in Norddeutschland im Projekt "So bewegt sich Deutschland"
Quelle: Telefónica NEXT

Neue Erkenntnisse durch permanenten Datenfluss
Bei vielen verkehrswissenschaftlichen Analysen stehen die Reisehäufigkeit und die Verkehrsmittel- bzw. Routenwahl der Reisenden im Fokus. Bislang wurden bei entsprechenden Fragestellungen vor allem so genannte Vier-Stufen-Modelle verwendet. Dabei wird auf der ersten Stufe die Wege- bzw. Reiseanzahl innerhalb eines bestimmten Zeitraums ermittelt (Verkehrserzeugung), auf der zweiten Stufe die Verteilung der Wege im Raum, auf der dritten die gewählten Verkehrsmittel, auf der vierten Stufe schließlich die gewählten Routen.

Konkrete Inputwerte liefern beispielsweise offizielle statistische Daten, Befragungen, Conjoint-Analysen – und auch der so genannte Gravitationsansatz. Dabei wird angenommen, dass sich die Verkehrsströme zwischen Städten oder Regionen analog zu Newtons Gesetz der Massenanziehung verhalten: je größer die Massen (etwa die Einwohnerzahl der Städte) und je kleiner die (quadrierte) Distanz, desto größer die Anziehung (das Verkehrsaufkommen).

Mithilfe von Mobilfunkdaten lassen sich die Anzahl der Reisen innerhalb eines bestimmten Zeitraums und die hierbei genutzten Verkehrsmittel ebenfalls ermitteln – die klassischen vier Stufen werden praktisch zu einer fusioniert. Da die Daten permanent entstehen und somit ein durchgängiges Bild der Verkehrsnachfrage zeichnen, können Entwicklungen grundsätzlich deutlich präziser beobachtet und gegebenenfalls auch prognostiziert werden. Hinzu kommt ein deutlich geringerer Erhebungsaufwand. Angesichts dieser Vorteile ist für Verkehrswissenschaftler von besonderem Interesse, ob die Mobilfunkdatenanalysen ähnliche Ergebnisse liefern wie bewährte klassische Ansätze.

„Klassik“ trifft „Moderne“ – die Untersuchung von Telefónica NEXT und KCW
Im Rahmen einer gemeinsamen Analyse von Telefónica NEXT und der KCW GmbH haben Christian Burgdorf (Berater KCW GmbH), Sigrun Beige (Take-to-Market Analyst Telefónica NEXT) und Alexander Lange (Leiter Transport Analytics Telefónica NEXT) die Reisehäufigkeit und die Verkehrsmittelwahl im innerdeutschen Personenfernverkehr (ab 50 Kilometer, einfache Strecke) ermittelt – einmal mit einem bestehenden Simulationsmodell, einmal mit Mobilfunkdaten.
Ziel war es, Gemeinsamkeiten und Abweichungen zu identifizieren und die Ursachen für allfällige Unterschiede zu finden. Berücksichtigt wurden dabei die Verkehrsmittel Fernlinienbus und Pkw („Straße“), Eisenbahn und Flugzeug.

TÜV-geprüfter Datenschutz
Auf der Mobilfunkseite wurde ein aktueller Datensatz von Telefónica NEXT verwendet, der die relevanten Reiseaktivitäten im Jahr 2017 enthält. Die Mobilfunkdaten entstehen als Nebenprodukt im Netzbetrieb des Telekommunikationsanbieters Telefónica Deutschland. Sie werden mit einem TÜV-geprüften und patentierten Verfahren anonymisiert, das in Zusammenarbeit mit der Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit entwickelt wurde. So ist sichergestellt, dass alle Datenschutzbestimmungen eingehalten werden und auch Analysten keine Rückschlüsse auf Einzelpersonen ziehen können.

Der im Rahmen der Studie verwendete „klassische“ Ansatz enthält alle wesentlichen Elemente des Vier-Stufen-Modells, weist im Vergleich zu „echten Klassikern“ allerdings erhebliche Modifikationen auf: Im Kern handelt es sich um ein systemdynamisches Simulationsmodell (siehe hierzu beispielsweise Forrester 1969), das Reiseanzahl und Modal-Split-Anteile für bestimmte Zeiträume in der Vergangenheit und auch in der Zukunft ausgeben kann, in diesem Fall für das Jahr 2018.

Messung anonymisierter Bewegungsströme über Funkzellen, schematische Darstellung
Messung anonymisierter Bewegungsströme über Funkzellen, schematische Darstellung
Quelle: Telefónica NEXT

Postleitzahlgebiete vs. Kreise und kreisfreie Städte
Entscheidend für den Vergleich ist vor allem, dass die Inputdaten mithilfe von Umfragen und anderen konventionellen Methoden wie dem Gravitationsansatz (zunächst in einer stark vereinfachten Form, bei der außer den Einwohnerzahlen und der quadrierten Distanz keine weiteren Faktoren in die Berechnungsformel einflossen) gewonnen wurden.

Damit ein Vergleich möglich war, mussten zunächst die Quell- und Zielgebiete vereinheitlicht werden: Telefónica NEXT aggregiert die Daten für den Verkehrssektor in der Regel zu so genannten Quelle-Ziel-Matrizen, die Reisendenzahlen zwischen verschiedenen Gebieten auf der Ebene fünfstelliger Postleitzahlgebiete auflisten und auf Basis von über 45 Millionen Mobilfunkanschlüssen auf die deutsche Gesamtbevölkerung hochrechnen.

Beim systemdynamischen Ansatz werden hingegen Kreise bzw. kreisfreie Städte (NUTS3-Ebene) als Start- und Zielgebiete verwendet. Für die gemeinsame Analyse rechneten Burgdorf, Lange und Beige die Telefónica NEXT-Daten auf NUTS3-Level um. Letztlich wurden Reisen mit mehr als 50 Kilometern Luftliniendistanz zwischen 369 deutschen Verwaltungssitzen bzw. kreisfreien Städten betrachtet.

Ergebnisse: Übereinstimmung oben, Abweichungen unten
Bei der Untersuchung zeigte sich, dass der Output beider Ansätze auf einem hohen Aggregationslevel weitgehend übereinstimmt: Laut systemdynamischem Modell unternehmen die Einwohner Deutschlands pro Jahr 13,2 Fernreisen – bei den Mobilfunkdaten sind es 12,9. Auch beim Modal Split waren die Ergebnisse weitgehend identisch: Den Anteil der Straßenreisen am Gesamtverkehr sehen beide Ansätze zwischen 87 und 88 Prozent, der Schienenverkehr liegt bei rund 11 Prozent. Lediglich der Luftverkehrsanteil ist bei den Mobilfunkdaten mit 0,9 Prozent etwas niedriger als im systemdynamischen Modell (1,5 Prozent).


Reisen pro Person und Jahr (bezogen auf 2017 bzw. 2018)
StraßeSchieneLuftGesamt
klassischer Ansatz11,61,40,213,2
Mobilfunkdaten11,31,40,112,9
Quelle: eigene Berechnungen

Auch bei der Frage, wie sich die Fernreisen auf verschiedene Distanzkategorien (50—100 Kilometer, 100—200 Kilometer bis hin zu 1000—1100 Kilometer) verteilen, kamen die Analysten mit beiden Methoden zu fast deckungsgleichen Ergebnissen (siehe Abbildung oben). Stärkere Abweichungen kommen erst bei der Betrachtung einzelner Strecken zwischen verschiedenen Orten vor – der größte Unterschied wurde auf der Strecke Frankfurt (Oder) – Nordhorn registriert.


Modal Split-Anteile (Reisen, bezogen auf 2017 bzw. 2018)
StraßeSchieneLuftGesamt
klassischer Ansatz87,5 %10,9 %1,5 %100 %
Mobilfunkdaten87,8 %11,2 %0,9 %100 %
Quelle: eigene Berechnungen

Die Hypothese der Forscher ist, dass entlang der Strecke über die Ost-West-Verbindung der Autobahn A2 auch grenzüberschreitender Verkehr eine gewichtige Rolle spielt, etwa Gütertransporte aus Polen und anderen östlichen Ländern in Richtung der niederländischen Containerhäfen Amsterdam und Rotterdam. Diese werden im verwendeten Gravitationsmodell jedoch nicht berücksichtigt.

Verteilung Reisen nach Distanzkategorien
Verteilung Reisen nach Distanzkategorien in Kilometer
Quelle: eigene Darstellung

Fazit und Ausblick
Auf globaler Ebene und bei den Anteilen der Distanzkategorien am gesamten Reiseaufkommen liefern das klassische Verkehrsmodell und die Mobilfunkdaten größtenteils übereinstimmende Werte. Größere Abweichungen werden vor allem bei der streckenbezogenen Betrachtung offenbar.

Im Verlauf der Untersuchungen wurde deutlich, dass ein vereinfachter Gravitationsansatz für stark aggregierte Betrachtungen gut geeignet ist, für streckenscharfe Analysen hingegen nicht. Hier weisen die Mobilfunkdaten generell eine deutlich höhere Plausibilität auf und erlauben flächendeckend valide Aussagen, auch wenn auf Detailebene noch Verbesserungen möglich und erforderlich sind. Auf Grundlage der gewonnenen Erkenntnisse soll auch das verwendete klassische Verkehrsmodell (insbesondere der verwendete Gravitationsansatz) modifiziert werden, um einen weiteren und umfangreicheren Vergleich mit Mobilfunkdaten im Fernverkehr vornehmen zu können.

Literatur
Forrester, J. W.: Urban Dynamics. MIT Press, Cambridge, Massachusetts (1969).
Männel, T; Schmidt, A.: Potenzialanalyse von Mobilfunkdaten in der Verkehrsplanung. Fraunhofer Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO (2017).