Ausgangslage: Entscheidung über die Einrichtung von Fahrverboten
Das Bundesverwaltungsgericht hatte in zwei Sprungrevisionen über Urteile der Verwaltungsgerichte Düsseldorf und Stuttgart zu entscheiden. Bei einer Sprungrevision handelt es sich um ein in bestimmten Fällen mögliches, sozusagen verkürztes Verfahren, bei dem die erste Berufungsinstanz „übersprungen“ wird. In den Entscheidungen der Verwaltungsgerichte Düsseldorf und Stuttgart ging es um die Frage, ob in Städten mit zu hohen Stickoxid-Konzentrationen Fahrverbote für Dieselfahrzeuge eingerichtet werden können und müssen. Beide Verwaltungsgerichte hatten dies bejaht. Dieselmotoren sind ein Hauptverursacher der gesundheitsschädlichen NOx-Emissionen. Bereits seit 2010 gelten europaweit einheitliche Obergrenzen, die aber in zahlreichen deutschen (und anderen europäischen) Städten nicht eingehalten werden.
Vor dem jetzt vom Bundesverwaltungsgericht zu entscheidenden Streitfällen hatten nationale Gerichte anderer Länder und europäische Gerichte lokale Behörden dazu verurteilt, mit wirkungsvollen Maßnahmen gegen zu hohe Luftschadstoffkonzentrationen aktiv zu werden.
Bundesverwaltungsgericht bestätigt die Urteile
Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinen beiden Entscheidungen als letzte Instanz die Entscheidungen der beiden Verwaltungsgerichte Stuttgart und Düsseldorf weitgehend bestätigt. Diese hatten eine Verpflichtung dahingehend gesehen, dass die zuständige Straßenverkehrsbehörde ggf. flächenhafte und ganzjährige Fahrverbote zu verhängen hat, wenn dies die einzige schnell wirkende Maßnahme gegen die Überschreitung der Grenzwerte sei. Der Schutz der Rechtsgüter Leben und Gesundheit der von den Immissionen Betroffenen sei höher zu gewichten, als die von dem Verkehrsverbot betroffenen Rechtsgüter des Fahrzeugführers (Eigentum und allgemeine Handlungsfreiheit).
Urteilsbegründungen liegen nun vor
Inzwischen liegen die schriftlichen Urteilsbegründungen des Bundesverwaltungsgerichtes vor. Die Richter erläutern, dass eine Pflicht zum Erlass von Fahrverboten insbesondere deshalb bestehe, da seit der Gültigkeit der europäischen Grenzwerte keine wirksamen Maßnahmen ergriffen worden seien und somit systematisch und ausdauernd gegen die Verpflichtung zur Einhaltung der Grenzwerte verstoßen werde. Sie urteilen, dass Gerichte die zuständigen Behörden verpflichten können, unverzüglich Fahrverbote zu erlassen. Nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts steht dies nicht im Widerspruch zum geltenden Recht – ein Argument, das die Gegenseite vorgebracht hatte.
Fazit: Bei Überschreitung von Grenzwerten müssen die Kommunen schnell handeln
Somit ist klar, dass die zuständigen Straßenverkehrsbehörden bei Überschreitungen der Grenzwerte die schnellstmöglich wirkenden Maßnahmen ergreifen müssen. Ggf. sind sie dazu verpflichtet, unverzüglich auch flächenhafte Fahrverbote für bestimmte Fahrzeugtypen (Diesel unterhalb der Schadstoffnorm Euro 6, Benzin/Gas unterhalb der Norm Euro 3) zu erlassen.
Der Bundesgesetzgeber muss dazu keine neue Regelung erlassen.
Die Entscheidungen kommen insbesondere angesichts vergleichbarer Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes nicht völlig überraschend.
KCW: Gesamthafte Strategie statt nur kurzfristiger Dieselfahrverbote
KCW bewertet die aktuellen Urteile in einem weiteren Kontext. Es ist wichtig, den Blick nicht auf die Stickoxid-Problematik zu beschränken. Die nun gewählten Lösungen in Reaktion auf Stickoxide und der Dieselantriebe als deren Hauptverursacher sollten so gewählt sein, dass sie weitere verkehrsbedingte Belastungen (z.B. Feinstaub, Lärm) ebenso nachhaltig reduzieren und den Anforderungen des Klimaschutzes Rechnung tragen, um so auch die hier geltenden rechtlichen Anforderungen zu bewältigen. Im Vordergrund muss also die Verlagerung des Verkehrs auf umweltfreundliche Verkehrsträger und die Reduzierung des Verkehrsaufkommens stehen.
Wesentliche Punkte der beiden Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts
Die Bundesrichter bestätigen die Vorinstanzen (Aktenzeichen Stuttgart 7 C 30.17, Düsseldorf 7 C 26.16):
- Fahrverbote sind rechtlich zulässig und sowohl streckenbezogen als auch zonal möglich (vgl. für Stuttgart, Rn. 19 ff. des Umdrucks);
- Maßnahmen, die nicht vor dem 1.1.2020 wirksam werden, verstoßen gegen das geltende Recht (Stuttgart, Rn. 35);
- Die zuständigen Behörden sind verpflichtet, alle erforderlichen Maßnahmen zur schnellstmöglichen Minderung der Luftbelastung auf höchstens die zulässigen Werte zu ergreifen. Hierzu müssen die Luftreinhaltepläne fortgeschrieben werden (Stuttgart, Rn. 13);
- In den Luftreinhalteplänen ist die Anordnung eines ganzjähriges Fahrverbots für alle gas- und benzinbetriebenen Fahrzeuge unterhalb der Abgasnorm Euro 3 und für Dieselfahrzeuge unter Euro 6 in Betracht zu ziehen, d.h. Fahrverbote sind zu erlassen, wenn sie die im konkreten Fall geeignetste Maßnahme darstellen (Stuttgart, Rn. 13);
- Die Tatsachenfeststellungen der Vorinstanzen zeigen, dass dort ganzjährige zonale Fahrverbote die effektivste und am besten geeignete Maßnahme darstellen (Stuttgart, Rn. 18) (und somit einzuführen sind).
In einem Punkt haben die Bundesrichter die Entscheidungen der Vorinstanzen geändert, da diese den hohen Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit nicht vollständig genügten (vgl. für Stuttgart, Rn. 38 ff. des Umdrucks):
- Die gebotenen zonalen Fahrverbote müssen in mehreren Phasen eingeführt werden (Stuttgart, Rn. 42 f.). In der ersten Stufe – d.h. unverzüglich und ohne Übergangsfristen – dürfen/müssen Fahrverbote für Fahrzeuge bis einschließlich Euro 4 erlassen werden. Lediglich für Fahrzeuge der Norm Euro 5 dürfen Fahrverbote erst ab dem 1. September 2019 wirksam werden.
- Die Fahrverbote sind anhand der Entwicklung der Schadstoffbelastung zu überprüfen und ggf. zu modifizieren (Stuttgart, Rn. 44).
- Zudem sind angemessene Ausnahmeregelungen zu erlassen (Stuttgart, Rn. 45 f.).
Eine Entschädigung der betroffenen Fahrzeugeigentümer ist nicht erforderlich (Stuttgart, Rn. 48ff.).
Der Bundesgesetzgeber muss keine neuen Gesetze erlassen, auch wenn z.B. eine blaue Plakette eine Umsetzung der Fahrverbote praktisch erleichtern würde (Stuttgart, Rn. 52 ff.).
Nachtrag (1. Juli 2018)
In zwei Fällen haben sich zwischenzeitlich Verwaltungsgerichte mit der Umsetzung der Urteile befasst, für die Städte Aachen und Stuttgart.
In Aachen bezeichnet das Verwaltungsgericht nach mündlicher Verhandlung am 8. Juni ein „Dieselfahrverbot für Aachen ab dem 1. Januar 2019 zu 98 % wahrscheinlich“ (Pressemitteilung des Gerichts). Das Verwaltungsgericht Stuttgart erzwingt nach einem Bericht der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 29. Juni, dass Fahrverbote für Diesel inklusive Euro 5 umgesetzt werden, ohne die von der baden-württembergischen Landesregierung diskutierten weitreichenden Ausnahmen. Die Klägerin berichtet aus der mündlichen Verhandlung, dass das Gericht über die „Verzögerungstaktik“ des Landes verärgert gewesen sei und „Zwangshaft für Politiker oder Behördenleiter“ angedroht habe.
Weitere Verfahren sind anhängig, unter anderem für Berlin.